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Forum - Kurze Geschichten
Warten, dass was geschieht

temeres
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Bei meiner Tante war kein Platz mehr für mich. Die Wohnung im Stuttgarter Osten war Freiheit, weit weg, absolut riesig und renovierungsbedürftig. Wir malten Neonfarben über Türen und Wände und legten Perserteppiche aufs Linoleum. Das interessiert jetzt keinen, aber ich sag’s mal, weil einer der Teppiche, und zwar der größte, in der Geschichte eine Rolle spielt.

Frau Schátowa ließ uns freie Hand. Eine ältere russische Dame, gut am Start für ihr Alter. Ihr gehörte das Haus. Im Erdgeschoss lag ihr Kosmetikstudio für Hunde und andere Pudel, darüber ihre Wohnung und daneben neuerdings eine kleine unharmonische Einheit, die aus Freddy, Sabine und mir bestand. Ich streckte mich.

Freddy, mein guter Kumpel, glaubte noch, das Internet würde die Kommunikation aller erneuern. War natürlich Stuss. Er schwor auf Aleister Crowley, schlüpfte in diabolische Identitäten, in okkulte Nischen, wo er als Dämono oder Furius was Teuflisches verteidigte. Mehr zum Spaß, er meinte, die Mädels stehen drauf. Sabine träumte von Unendlichkeit, obwohl ihr so ein üppiger Nachmittag ganz schön lang werden konnte. Die Telekom fraß unsere letzten Groschen.

Im Frühjahr waren die Sonntagvormittage in der Küche die behäbigsten. Wir hingen rum, lachten uns dämlich, jeder gab Privatlyrik zum Besten, Stephan Eichers ‚Carcassonne’ lief im Hintergrund, verführte uns melancholisch und ließ uns glauben. Man achtete darauf, den anderen nicht zu befrachten und dennoch Beziehungen zu führen, die es wert waren. Das klappte selten, diente aber dennoch aufrichtigen Zwecken.

Wenn ich richtig bin, war’s ein Feiertag unter der Woche, mindestens Himmelfahrt, als mir der Alte zum ersten Mal auffiel. Wir saßen in der Küche. Freddy und Sabine hatten ihre erste gemeinsame Nacht verbracht, ein Versehen, das am Morgen keiner mehr wahrhaben wollte. Schweigende Peinlichkeit, als hätte man sich übergeben. Sabine nervte plötzlich alles was Computer betraf, suchte die Welt in der Mythologie und zog Küchenkräuter in die Höhe. Die kamen dann in Milchsoßen französischer Kühe, essentiell und parasitär auch ins Gesicht gegen echte und falsche Mitesser wie Freddy und mich. Sie hatte esoterische Sachbücher von Knaur im lila Einband und Müsliszeneführer aus der Apotheke. Ihre Mutter war Anfang Mai an Krebs gestorben.

Wir sahen zu, trauten uns keinen Lacher, schauten hin und wieder zum Fenster, schräg über die Straße, wo erstmals der Alte auftauchte und zum Anblick wurde. Er sah länger am Haus hoch und kam dann rein. Mir war, als hätte ich ihn schon einmal gesehen. Nicht in echt, aber als Tausendjährigen in einem bizarren Fernsehspiel, wo es um einen klapprigen Greis ging, der trotz seines ausgemerkelten und faltigen Körpers versucht, etwas Zärtlichkeit bei einer Prostituierten einzuklagen. Ging natürlich daneben. Die Nutte lag unten, wandte sich die ganze Zeit angeekelt ab und weigerte sich, ihn zu küssen oder zu umarmen.

Eicher sang ‚Hope’, als Sabine Freddy fragte, ob er ihr nun eventuell die Kräuterteekanne rüberreichen könne. „Wenn’s unbedingt sein muss“, sagte Freddy und machte ein Gesicht, als ob er sie seit dem Eintritt ihrer ersten Ovulation ununterbrochen befriedigt hätte. Er füllte ihre Tasse halbvoll und lächelte wie ein leerer Blumentopf. Sabine ignorierte ihn tapfer und meinte gestelzt, dass es ihr ausgesprochen lieb wäre, wenn die überflüssige Nacht, bei entsprechender Möglichkeit, vielleicht nicht auf dem ganzen Unigelände publik geprotzt würde.

Unten ging die Haustür. Der Alte kam die Treppe hoch. Auf dem Weg zur Toilette lauschte ich an der Wohnungstür und schaute durch den Spion. Wie sich rausstellte, hieß er Stabler. Er war insgesamt ungewöhnlich mickrig und trug ein geradezu riesenhaftes Gesicht mit vielen ausgefransten Leberflecken. Er hob den Hut und verbeugte sich. Alte Schule. Frau Schátowa grüßte höflich, bat ihn rein, sah aber pikiert und verdammt gnädig aus. Dann schloss sich für drei Stunden die Tür; das war’s, mehr war nicht mitzubekommen. So fing es an.

Die nächste Zeit gingen Freddy und Sabine einander aus dem Weg. Besonders geizig war’s im Juli. Die geselligen Frühstücksbrötchen waren gegessen. Meist saß ich allein in der Küche. Kam der eine, ging die andere und umgekehrt. Zu öde da irgendwas zu vermitteln. Freilich, Sabine war mehr zu Hause, trug die Haare offen und ging mit Rouge ins Bett. Freddy kroch in den Computer, stierte per Suchmaschine nach Sabine Hofer, während sie im Internetcafé seine Geburtsdaten in die Astrologieseiten eingab. Jeder wartete auf den ersten Schritt des anderen und zelebrierte seine Autonomie. Diva trifft Diva.

Ich ließ derweil bei Frau Schátowa eine Stechwarze an der Fußsohle entfernen. Sie sah mich humpeln und lud mich ein, als ob ich einer ihrer Pudel wäre. Ich fragte nach dem Alten. Sie stöhnte stolz bescheiden, dass er ja so unsterblich in sie verliebt sei. Ach und Gott. Er sage immer, nur sie allein bringe Harmonie auf Erden. Es beruhige sein inneres Wesen, dem leichten Spiel ihrer Hände zu folgen. Er wolle bei ihr sitzen dürfen, er wolle sie ansehen, ihr Wesen riechen, und so, ein klein wenig nur, in ihren dahingehenden Tagen mitleben. Da war wohl Liebe im Spiel. Bei ihm wenigstens.
Einmal, aber nur einmal, wollte Frau Schátowa ihn gewähren lassen. Dann kam er, wie sich über Wochen zeigte, jeden Sonntag von elf bis zwei. Da er nichts weiter von ihr wollte und sie nicht krude störte oder hinderte, gab sie schließlich nach und wies ihm einen steten Platz zu. So saß der gute Mann also sonntags in ihrem vollgestopften Wohnzimmer auf einem Empire-Sesselimitat und wartete.

August und September flogen daher und flogen weiter. Freddy rannte mit einem Fotoapparat umher und schoss düstere Bilder in Schwarzweiß, abends malte er sich dicke Kajalstriche unter die Augen und zapfte Bier. Ich jobbte auch rum, ein paar Wochen in Sachen Pflege beim raffhalsigsten Pärchen, das mir je unterkam. Privater Pflegedienst. Sabine besuchte drei Wochen ihren Vater, anschließend machte sie auf Clown, fuhr nach Freiburg zu Galli, wo sie in einer Theaterschule die „Die Lust am Scheitern“ lernen wollte. Die rote Plastikknollennase kostete extra. Wieder zurück, gestand sie uns ihre Erkenntnisse, zum Beispiel, dass „das Herz den Konstruktionen des Verstandes hilflos gegenüberstehe“. Das sprengte natürlich alles. Es durfte wieder gelacht werden.

Ab Oktober machte sie ein Praktikum in Hamburg. Als sie das zweite Wochenende weg war, kam Frau Schátowa angerannt, völlig aufgelöst. „Kommen Sie, kommen Sie! Er atmet nicht!“ Wahrscheinlich dachte sie, ich könnte noch was machen. Wir stürmten ihre Wohnung. Der Alte war vom Sessel gesunken. Tot. Mausetot. Kein Puls, nix. Ich tippte auf Infarkt oder Lungenembolie. Frau Schátowa hyperventilierte wie ein durchgeknallter Teeny. Ich gab ihr eine Tüte, wo sie reinatmen konnte. War schon heftig. Kaum beruhigt, bat sie uns, mit drohender Betfaust, ihn unbemerkt in seine Wohnung zurückzubringen. „Bidääh, was muss sterbe gerade hier?! Diese Ärger!“

Die Idee war natürlich mäßig. Wir standen überrumpelt. Freddy lächelte, war aber ganz blass. Einen echten Toten hatte er noch nie gesehen und Stabler sah insgesamt gar nicht gut aus. Frau Schátowa rotierte über ihrem guten Ruf, der Nachbarschaft, der Kundschaft, den Einnahmen und plötzlich landete sie auf den Bullen und deren aufdringlichen Fragen – auch an uns.
Wir hoben die Augenbrauen. Ich kapierte nicht gleich, aber Freddy schmollte bereits teuflisch. Hier muss leider erwähnt werden, dass sie ihren Zweitschlüssel schamlos benutzte und in unserem Wohnzimmergarten die Hanfkübel vor sich hin gediehen. War nicht abzuleugnen. Freddy fasste sich als Erster, kratzte seinen Hinterkopf und murmelte: „Nicht unbedingt.“ Die Schátowa meinte aufgeweckt, die Polizei würde ganz sicher kommen, auch zu uns, zwangsläufig und sofort.
Wir blieben unsagbar stur. Wir schüttelten die Köpfe. Dann holte Freddy den Teppich. „Merkt doch kein Schwein“, sagte er.
Es dauerte nicht lang, keine halbe Stunde. Wir schleppten den Alten am helllichten Tag über die Straße in seine Wohnung. Freddy pfiff ein Liedchen, irgendwoher schallten Formel 1 Motoren, ansonsten keiner unterwegs, niemand fiel was auf. Wir waren verrückt.

Herr Stabler lebte in Sichtweite in dunklen Räumen über einem dichtgemachten Secondhandladen, wo keiner mehr war. Eine Weile machten wir rum, ob wir ihn ins Bett oder aus Wahrheitsliebe zum Originalschauplatz neben einen Stuhl legen sollten. Das Bett gefiel uns besser. Der Boden war kalt und dreckig und vollends pietätlos. Wir zogen ihn aus und hängten Anzug, Hemd und Unterhemd über einen Stuhl. Schlafanzug. Die Idee kam von Freddy. Mir war alles recht. Übrigens, neben dem Bett stand eine Kommode mit aufgesetzter Vitrine. Eine Art Schrein mit Kerzenhaltern, Plastikrosen in weißer Vase und zwei Porträtaufnahmen. Eine zeigte die verstorbene Frau Stabler, die andere Marja Schátowa mit toupierten Haaren, unverkennbar. Wir haben nichts angerührt. Der Hanf wurde über der Kloschüssel zerschnippelt. Wir rechneten damit, dass der Alte schnell gefunden und die Bullen ruckzuck auf dem Weg wären.

Zwei Tage später wurde uns mulmig. Langsam aber sicher dämmerte uns Grausiges, womit natürlich keiner gerechnet hatte. Wir hingen am Fenster, stierten rüber. „Und? Tut sich was?“
„Nichts. Absolute Funkstille.“ Nach vier Tagen war uns sehr mulmig, nach fünf richtig schlecht. Irgendeinem müsste es doch auffallen. Wir retteten uns mit Grimassen und schlechten Witzen über die Runden. Die Schátowa inszenierte derweil Weltuntergang und gab uns den letzten Rest mit Drohungen. „Wir sind alle schuld! ALLE!“ brüllte sie. Die katholische Krähe. Als ob das einer bezweifelt hätte. Freddy schlug einen neuen Boiler raus und meinte schließlich, dass es doch egal sei, wann man Stabler nun endgültig unter die Erde lege. Trotzdem, wir waren heilfroh, dass wir ihn ins Bett gepackt hatten.

Nach einer Woche alberten wir zum letzten Mal, zehn Pizzas auf seine Adresse zu bestellen, einen Fußball ins Fenster zu kicken oder einfach anonym die Bullen zu rufen. Wir wollten ihn ungefunden behalten, wunderbar ungestört lassen, herzig, jeder still für sich, ganz eigen die kleinste Beobachtung mikroskopisch fühlend, heiligend. Wir warteten. Warteten und hofften auf Angehörige. Freunde, alte Hausärzte, Zufälle und viel viel Schicksal. Stablers Schicksal, das wir nicht sein wollten. Mit blühender Zuneigung verharrten wir in der Küche, perlten ihm zu, durch Stilgläser hinüber - im edlen Schneidersitz. Mehr wollten wir vielleicht nie. Freddy fror wie ein Schneider, trug trotz frühherbstlicher Wärme dicke Pullover, kotzte rum und schwänzte Vorlesungen; ich schiss von morgens bis abends Dünnpfiff, bis ich ausgeleert war.

Es dauerte dann dreiundzwanzig Tage bis Stabler gefunden wurde. Sein Briefkasten war übervoll und ein süßer stechender Geruch kam dem Postboten spanisch vor. Er verständigte die Polizei. Wir blieben unbehelligt. Der Vermieter, der die Wohnung zu entrümpeln hatte, gab Frau Schátowa ihr Bild zurück. Uns wollte er einen Teppich schenken. Wir lehnten ab.

Frau Schátowa dankte uns. Sie verstand nicht, warum der alte Mann so plötzlich gestorben war. Warum eigentlich gerade, als sie nachgegeben hatte? Als sie ihn beinah zärtlich im Arm hielt, ihn sogar wiegen wollte. Als sie anfing, sei er sofort röchelnd zusammengesackt.
„Zuviel des Guten“, sagte ich.
„Nicht unbedingt“, meinte Freddy.
Beitrag 12.01.2012, 15:02